«Sie portieren nicht den Strammsten»

 

Jürg Stahl ist ein Schweizer, wie er sie selbst am liebsten mag: bescheiden, bemüht und fleissig. Am Montag wurde der SVPler aus Winterthur ins höchste Amt des Landes gewählt.

Bild Marc Dahinden

Artikel Melanie Kollbrunner

 

Jürg Stahl, wie es ihm am wohlsten ist: Umgeben von Kater Ferdinand und seinen Liebsten. Er blättert durch einen Band über die Alpen, das Geschenk zur Wahl eines Amtsvorgängers. Stahl mag den Eiger besonders gern, «wir sind uns ein bisschen ähnlich, der Eiger und ich. Er ist nicht das Matterhorn, nicht der Aufälligste, nicht der Wichtigste. Aber doch anspruchsvoll.»

 

Kater Ferdinand schüttelt das nasse Wetter ab, draussen schneit es. Drinnen sind alle erkältet, Baby Valérie ist weinerlich und schnieft, «Familienseuche», sagt Sabine Stahl und steckt ein Nastuch in die Hosentasche. Jürg Stahl sagt, er freue sich auf die Ski-Weltmeisterschaften. Überhaupt auf den Winter und das, was komme. Er lädt zum Kaffee auf seine «Burg», wie er sein Zuhause in Brütten nennt, das er seit sechs Jahren besitzt. Noch weiss er nicht, dass das Sportparlament ihn am 25. November seinen Konkurrenten klar vorziehen und ihn zum Präsidenten von Swiss Olympic wählen wird. Aber er will es. «Hier werde ich nicht zur Seite stehen», sagt er, «hier bin nun ich dran.» Und er weiss, dass er drei Tage darauf zum Nationalratspräsidenten vereidigt werden wird. «Wenn man diesen Weg betreten hat, dann hindert einen in der Regel niemand daran, ihn zu gehen», sagt er. Der Regelbruch, die Nichtwahl eines Vizepräsidenten, ist zuletzt im 19. Jahrhundert eingetreten.

 

Jetzt verzahnen sich alle Räder, an denen er so geduldig geschraubt hat: Jürg Stahl wird nach siebzehn Jahren im Nationalrat höchster Schweizer, hat zudem Stunde um Stunde seines Lebens ins Vereinswesen rund um den Sport investiert, sein olympisches Ziel ist erreicht.

 

Vom fleissigen Drogistensohn

 

Gäbe es Schweizer Märchen, so würde Jürg Stahls Geschichte vielleicht nach einem solchen klingen. Jenem vom fleissigen Drogistensohn aus dem Winterthurer Arbeiterviertel Töss. Jenem vom Enkel eines Gewerkschafters: Sein Grossvater war das jüngste von zehn Kindern, das mit vierzehn Jahren zu Fuss vom oberen Tösstal losgezogen war, um dann sechseinhalb Tage die Woche unten in der Maggi-Fabrik in Kemptthal sein Geld zu verdienen.

 

Das Märchen von einem, der gebrochenen Herzens nach Brütten zog, um seinem Leben eine neue Wende zu geben. In die Gegend der Wälder, in denen er früher mit seinen Schulfreunden gespielt hatte. Das vom Junggesellen, der sein Glück spät gefunden hatte, in der Hauptstadt, seine Prinzessin nach Brütten holte, um mit ihr eine Familie zu gründen und als mächtigster Mann im Land zufrieden auf seiner Burg zu leben, um Uhren und Taschenmesser zu sammeln. Erst einfache Uhren, dann wertvollere, immer mit der grossen Liebe zum Handwerk seiner Mitbürger.

 

Es gibt keine Schweizer Märchen, auch wenn Stahl seine Burg gefunden hat, ein mittelgrosses Einfamilienhaus aus den Siebzigern. Auch wenn er die Brüttemer Wälder und wohl auch die Steuervorteile schätzt. «Manche nennen ihre Burg Oase oder Insel», sagt er und setzt sich etwas steif an seinen Lieblingsort, um in die Kamera des Fotografen zu lächeln – «eine Rolle, die mir noch immer nicht behagt».

 

Auch wenn Stahl nicht gerne in die Kamera lacht, so freut er sich auf die Bühne, die er nun endlich bekommt: Lange genug hat es ihn verunsichert, dass andere im Fokus standen, während er im Hintergrund blieb.

 

Hört man sich um, wird rasch klar: Stahl ist ein allseits geschätzter Weggefährte, der nicht aneckt, nicht polarisiert. «Keine Gegner zu haben, das ist nicht nur erstrebenswert», sagt Stahl. Es machte ihm zu schaffen, wenn er als gemässigt eingeschätzt wurde: «In der Schwarzweisspolitik, die es leider auch in meiner Partei gibt, wird gemässigt mit unzuverlässig gleichgestellt.» Er betont: «Ich bin kein halber Rechter.»

 

Nicht mit Blocher verreisen

 

Seit er sich damit abgefunden habe, unspektakulär zu sein als Politiker, sei er viel ausgeglichener. Nun habe es sich für ihn sogar ausbezahlt, keiner der Lauten zu sein: «Sie portieren nicht den Strammsten.» Stahl spricht gerne in Metaphern. Er mag jene der Sportequipe beispielsweise: Nicht die Mannschaft mit den stärksten Einzelkämpfern gewinne zwingend den Pokal. Es brauche aber schon auch die Stürmer, einen Christoph Blocher, der heisse Eisen anfasse.

 

«Wir sind nicht vom gleichen Schlag, spielen nicht in derselben Disziplin.» Inhaltlich aber habe er grossen Respekt vor Blocher. «Wir haben einander immer in Ruhe gelassen. Gemeinsam in die Ferien fahren werden wir wahrscheinlich nicht.» Er selbst sei nun als Nationalratspräsident Coach und Schiri in einem, sagt Stahl.

 

«Man traut mir die Aufgaben zu, das ehrt mich und schmeichelt mir.» Es warten Repräsentationsaufgaben, von denen er interessengemäss vor allem jenen der sportlichen Art nachgehen will. Und es warten Sitzungsleitungen der Parlamente. Und der Stichentscheid in Abstimmungen. «Im Nationalrat sind es von rund tausend in einem Jahr selten mehr als zehn Fälle, in denen diese grosse Verantwortung zum Tragen kommt», sagt Stahl. Aus dem politischen Tagesgeschäft entfernen sich der Präsident und seine beiden Stellvertreter.

 

Tiefpunkt in Winterthur

 

Ein anderes Bild, das Stahl benutzt, ist jenes vom Uhrwerk. «Ich bin nur eines von vielen Zahnrädern, die es braucht, damit das Land funktioniert.» Er sehe sich als kleinen Teil im Dienste einer grossen Sache.

 

«Es ist nun eben nicht mein Weg, meine Ellbogen auszufahren und wöchentlich die Sonntagspresse zu füllen», sagt er. Sein Weg, der führte von Winterthur direkt nach Bern, ohne Umweg über Zürich: Er war nie im Kantonsrat, nie im engsten Zirkel der Zürcher SVP.

 

Als Tiefpunkt seiner Karriere bezeichnet Stahl die knappe Nichtwahl in den Winterthurer Stadtrat: «Nichts hat mich so zu Boden gehauen. Es ging um eine auf 27000 Stimmen.» Heute steht er über diesem Ereignis. «Ich weiss nun, dass dies nur eine Weiche war in meinem Leben.»

 

Sorge um das Wertvollste

 

Klar habe er sich alles als Junger einmal anders vorgestellt. «Klar bin ich vor siebzehn Jahren losgezogen und habe gedacht, ich würde die Welt verändern. Klar dachte ich, jetzt räumst du da auf.» Damals fuhr Stahl noch Motorrad, in einer Zeit «ohne ABS und mit einer überschaubaren Anzahl Blitzkasten», zudem hat er rund 2500 Fallschirmsprünge hinter sich. Vieles hat sich seither verändert. Zum Beispiel macht er sich Sorgen um das Wohl seiner Familie, weil er oft unterwegs sein wird. «Die Sicherheit der Familie habe ich mit der Bundespolizei intensiv überprüft», sagt er und runzelt fast unmerklich die Stirn. Er habe womöglich keine Gegner, Neider aber, die habe er. Nachts, wenn sein Töchterchen wach wird, dann ist er es, der zuerst aufwacht, nicht seine Frau.

 

Und er hat sich selbst von seinem Hausarzt, einem ehemaligen Olympiaarzt, gründlich durchchecken lassen vor dieser, wie er sagt, «mit Sicherheit intensiven Zeit». Seit Valérie da sei, wolle er auch besser auf sich selbst aufpassen. «Ich versuche, mein Gewicht stabil zu halten, Übergewicht und Stress sind Risikofaktoren für Herzleiden.» Sein Vater ist im Alter von 59 Jahren an einem Herzversagen gestorben. Stahl schaut auf seine Uhr, er trägt heute eine Omega Olympics, die er sich selbst gekauft hat. «Noch immer reut es mich um die, die ich zur Konfirmation vom Vater geschenkt bekommen und verloren habe. Eine Woche lang habe ich keinem vom Unglück erzählt», sagt Stahl an diesem Montagnachmittag und lächelt melancholisch. «Mein Vater würde diesen Moment geniessen», sagt er. Seit er seine Tochter Valérie habe, wisse er genau, wie wertvoll einem sein Kind sei, er kenne jetzt den grossen Stolz.

 

 

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