Obersee Nachrichten: Neujahrsinterview

 

«Eine Demokratie lebt von Konsens und Dissens»

Er ist ein politischer Senkrechtstarter, gelernter Drogist, viersprachig, verheiratet, Vater von Valérie Julia (1) und neu Präsident von Swiss Olympic: SVP-Nationalrat Jürg Stahl (48) ist der neue «höchste» Mann im Staat. Er selbst nennt sich «Repräsentant der Normalos».

Interview Verena Schoder

 

Der Präsident des Nationalrats gilt im Volk als «höchster Schweizer». Herr Stahl, wie hoch oben fühlen Sie sich?

(lacht) Auch wenn ich schon 2500 Fallschirmabsprünge in meiner Militärzeit gemacht habe und viel in den Lüften bin, fühle ich mich zwar privilegiert – aber nicht in anderen Sphären.

 

In den Medien wurden Sie als «unspektakulär» und «Repräsentant der Normalos» zitiert. Erklären Sie uns, warum?

Stimmt, so bin ich in den Medien porträtiert worden, und so sagte ich es auch in meiner Antrittsrede. Ich finde es wichtig, auch jene Hunderttausende zu vertreten, die ebenfalls ganz «normal» morgens zur Arbeit gehen, versuchen, einen guten Job zu machen und abends müde heimkehren. Es sind die «Unspektakulären» in unserem Land, welche mit ihrer alltäglichen und unauffälligen Arbeit den Erfolg unserer schönen Schweiz erschaffen.

 

One-Man-Shows behagen Ihnen nicht, sagen Sie. Aber Sie sind auch nicht kamerascheu, oder doch?

Ich politisiere seit 24 Jahren, das ist mein halbes Leben. Wenn ich kamerascheu wäre, wäre ich wahrscheinlich längst kein Politiker mehr. Aber es ist für mich schon gewöhnungsbedürftig, als Nationalratspräsident plötzlich im Fokus zu stehen.

 

Sie erwarten in Ihrer Amtszeit zwar harte Debatten, jedoch nicht so «stahlharte» wie Ihr Name. Heisst das, die Tonalität im Nationalratssaal wird sich unter Ihrer Führung wieder mässigen?

Ich bin jetzt 17 Jahre im Rat und habe 70 Sessionen hinter mir. Ich weiss, dass es immer wieder mal hart zur Sache geht. Es ist wichtig, dass man sich hart miteinander auseinandersetzt, um einen Konsens zu finden. Es ist auch nicht schlimm, wenn mal Dissens herrscht. Aber es ist mein Anliegen, dass immer mit offenem Visier gekämpft wird. Ich habe jetzt die erste Session geführt und kann sagen, dass sie, trotz hoch emotionalen Geschäften und harten Diskussionen, ohne Eskalationen zu Ende ging.

 

Über welche Sanktionsmöglichkeiten verfügen Sie denn, um ungebührliche Querköpfe zu disziplinieren?

Ich kann bei Schimpftiraden oder persönlichen Beleidigungen das Mikrofon abstellen, ich kann das Wort entziehen, ich kann mahnen, aber vom Reglement her sind meine Sanktionsmöglichkeiten eher beschränkt. Meine beste präsidiale Erfahrung ist, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Ich habe da so meine Tricks, die ich aber nicht verraten möchte.

 

... die Sie aber vom Sport mitbringen?

Richtig! Meine Aufgabe ist es, wie ein Schiedsrichter atmosphärisch gute Voraussetzungen zu schaffen, sodass hitzige Debatten – die wichtig sind in einer Demokratie – fair und mit Anstand geführt werden.

 

Dennoch haben sich schlechte Sitten eingebürgert, etwa Beleidigungen, nicht zur Sache sprechen, unbelegte Behauptungen, Redezeitüberschreitungen und andere Tricksereien, die viele Bürger nerven.

Da kann ich leider nicht widersprechen!

Ich orte es aber eher der bedauerlichen gesellschaftlichen Entwicklung in einer mediatisierten Welt zu, die eine eigene Dynamik entfaltet hat und in der alles und jedes verzugslos weitertransportiert wird. Siehe USA-Wahlkampf! Auch wurden noch nie so viele Ratsdebatten vom Fernsehen übertragen wie in diesem Jahr. Aber wie gesagt, eine Demokratie lebt von Konsens und Dissens.

 

Die Schweiz ist multikulturell, Probleme müssen zum Wohl aller gelöst werden. Warum ist gerade Ihre Partei wenig kompromissbereit? Auf Kompromissen beruht der wichtige soziale Frieden in der Schweiz.

Die Kompromissbereitschaft ist eine Stärke der Schweiz und die zeigt sich nach wie vor. Ich kann sie sogar belegen. Wir hatten am letzten Tag der Wintersession 17 Schlussabstimmungen, dabei fanden 12 Geschäfte eine grosse Mehrheitszustimmung. Völlig unspektakulär, das aber zwei Drittel des politischen Wirkens in Bundesbern ausmacht, aber halt nicht in den medialen Fokus gerät.

 

Das Volk möchte Lösungen und nicht immer dieses Parteiengezänke. Können sich die Parteien in wichtigen Grundfragen überhaupt noch einigen?

Ja, das ist nach wie vor die Zielsetzung aller Parteien, dass man zugunsten der Bevölkerung gute Lösungen findet. Dieser gute Wille ist da und den nehme ich jeder Partei ab.

 

Als Gesundheitspolitiker kennen Sie die grosse Belastung der Krankenkassen-Prämien. Warum wird dem Volk jetzt auch noch die Mindestfranchise auf 500 Franken erhöht? Einfach, weil es der Weg des geringsten Widerstands ist?

Nein, sicher nicht. Mir ist absolut bewusst, dass viele unter den KK-Gebühren leiden. Aber man darf auch nicht vergessen, dass sie ein Abbild unseres Konsums sind. Die Absicht für eine Erhöhung der Franchise ist dieselbe wie 1996 bei der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes. Wo man sagte, dass das teure und gut ausgebaute Gesundheitswesen durchaus mit einer Selbstkostenbeteiligung belegt werden darf. Das gilt auch für die Standardfranchise: Damit die Krankenkassenprämien bezahlbar bleiben, müssen wir die Eigenverantwortung stärken. Wer sich in einem höheren Umfang an den Kosten beteiligen muss, überlegt es sich eher, ob der Gang zum Arzt nötig ist.

 

Zuoberst auf der Bundeskuppel steht: «Einer für alle – alle für einen!» Denken Sie, dass der Staat zu oft um Subventionen angerufen wird?

Ja, und das ist sogar etwas sehr Unschweizerisches. Nämlich, dass man den Staat um Hilfe bittet, ohne erst zu überlegen, wie das Problem gesellschaftlich gelöst werden kann. Das ist eine Tendenz, die mich beunruhigt und die fortwährend zu den bekannten wachsenden Staatsausgaben führt.

 

Ihre Agenda wird 2017 randvoll sein mit Repräsentanten-Pflichten. Jetzt sind Sie auch noch Chef von Swiss Olympic geworden und Sie sind Ehemann und Vater. Wie gerecht werden Sie Ihre Zeit verteilen können?

Ich versuche mein Bestes zu geben. Es wird ein intensives Jahr werden, das ich aber mit meiner Frau besprochen habe. Ich denke, da es sich nur um ein Amtsjahr handelt und ich ein recht strukturierter Mensch bin, werde ich die Termine schon meistern. Aber es wird sicher Engpässe geben, das habe ich während der Session schon bemerkt.

 

Können Sie auch faulenzen, einmal gar nichts tun?

Oh ja, sehr gut! Faulenzen heisst bei mir schwedische Krimis lesen, TV-Sport sehen und mit meinem Töchterchen auf dem Boden «umedrole». Oder auch gar nichts tun!

 

Welche guten Vorsätze empfehlen Sie Bundesrat und Parlament für 2017?

Nur einen einzigen Vorsatz: mehr Gelassenheit.

 

Mit wem stossen Sie in der Neujahrsnacht an?

Ich freue mich sehr auf ein gutes Glas Rotwein, eventuell zu Hause oder bei Freunden und auf einen gemütlichen besinnlichen Übergang, den ich mit meiner Frau geniessen will.

 

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