Gesundheitsberater

 

«Drogerien sind wichtige Gesundheitsberater»

 

Jürg Stahl sitzt seit 16 Jahren für die SVP im Nationalrat. Am 18. Oktober stellt er sich erneut zur Wahl. Im Interview mit dem Drogistenstern erklärt der gelernte Drogist, woran das Schweizer Gesundheitssystem krankt, was er für Rezepte dagegen hat und welche Rolle die Drogerien dabei spielen.

Interview Bettina Epper

Fotos Flavia Trachsel

 

Herr Stahl, warum sind Sie Nationalrat?

Jürg Stahl: (lacht) Mitgestalten, Mitbestimmen liegt mir. Ich übernehme gerne Verantwortung. In der Schule war ich meistens Klassenchef, in der Studentenverbindung der Drogisten Präsident. Aber ich kann mir auch ein unpolitisches Leben gut vorstellen.

 

Aber offenbar nicht so bald. Nach 16 Jahren im Rat kandidieren Sie erneut.

Ich schaue es auch nach 16 Jahren als Privileg an, unser Land mitgestalten zu dürfen. Ausserdem bin ich im November 2014 als zweiter Vizepräsident des Nationalrats gewählt worden und werde den Rat voraussichtlich 2017 präsidieren. Das hat mich richtig motiviert.

 

Als zweiter Vize sitzen Sie im Ratssaal vorne, vis-à-vis Ihren Ratskolleginnen und -kollegen. War dieser Perspektivenwechsel erfrischend?

Ja (schmunzelt). Ich hatte das gar nicht erwartet. Motiviert haben mich auch die neuen Aufgaben. Ich bin mitverantwortlich für den Ablauf des Ratsbetriebs, für die Terminplanung und Sicherheitsdienst, Gastronomie, Besucherbetreuung. Solche Aufgaben habe ich schon als Unternehmer gemocht, und das hat mir jetzt wieder einen Schub gegeben.

 

Schub brauchen Sie auch. Sie sind Nationalrat, arbeiten bei der Groupe Mutuel, sind Ehemann und Freizeitsportler. Geht das nicht an die Substanz?

Das werde ich oft gefragt. Es gab tatsächlich Zeiten, da habe ich Raubbau betrieben. Doch mit den Jahren bin ich vernünftiger geworden. Heute habe ich den Mut, auch mal ein paar Tage freizunehmen und auf meinen Körper und meine Psyche zu hören. Solche Ruhezeiten sind sehr wichtig. Ausschlaggebend ist auch, dass die positiven Dinge überwiegen. Dafür sind wir alle auch selber verantwortlich, man muss das Positive provozieren, es einfordern. Dann erträgt man auch Sachen, die schwerer aufliegen.

 

Was stört Sie an der Politik?

Unsere tägliche Arbeit ist Reparieren. Manchmal auch dort, wo es gar nicht nötig wäre, denn vieles funktioniert eigentlich gut, und ich verstehe nicht, warum dann der Staat eingreifen muss. Warum sieht man immer das Schlechte?

 

Warum arbeiten Sie nicht mehr als Drogist?

Ich hatte die Drogerie meiner Eltern fast zehn Jahre lang geführt. Nach dem frühen Tod meines Vaters half mir meine Mutter, sie hat viel Arbeit übernommen, wenn ich in Bern war. Als sie ins Rentenalter kam, war mir klar, dass ich nicht gleichzeitig Nationalrat sein und einen Kleinbetrieb führen kann, und habe mich entschieden, eine neue Heraus forderung anzupacken. Ich bekam damals die Möglichkeit, beim Aufbau des Deutschschweizer Standorts der Groupe Mutuel mitzuarbeiten. Das war vor elf Jahren.

 

Ob in der Politik, als Nationalrat mit einer Amtszeit von 16 Jahren, oder beruflich, zuerst zehn Jahre als Gesch.ftsführer Ihrer Drogerie und jetzt seit elf Jahren bei der Groupe Mutuel, Sie scheinen ein treuer Mensch zu sein.

Ja (lacht). Treue ist eine gute Tugend. Meine Frau habe ich vor 16 Jahren kennengelernt. Ich war ganz frisch als 32-Jähriger in der «grossen» Welt der Schweizer Politik und merkte schnell, dass ich in Bern nicht im Hotel wohnen wollte. Also habe ich den Gratisanzeiger angeschaut. Jemand suchte einen Nachmieter, ich rief an und Frau Loosli nahm ab. Und Frau Loosli ist jetzt Frau Stahl. Wir haben den Kontakt immer behalten und vor drei Jahren geheiratet. Und jetzt schauen wir erst noch einem Familienglück entgegen, im November kommt unser Kind zur Welt.

Herzlichen Glückwunsch!

Danke.

 

Sie haben gesagt, Sie übern.hmen gerne Verantwortung. Politiker fordern oft, dass die Menschen für ihre Gesundheit mehr Verantwortung übernehmen müssen. Warum?

Wenn andere alles organisieren für einen, überlegt man nicht mehr selber, was gut und was schlecht ist. Das Angebot unseres Gesundheitssystems ist sehr umfassend und teuer. Viele denken: Wenn es mich trifft, wenn ich krank bin, dann will ich alles an Behandlung, was möglich ist. Stellen Sie sich vor, Sie kaufen im Grossverteiler ein. Am Schluss müssen Sie an der Kasse alles bezahlen. Sie überlegen also gut, was Sie ins Wägeli legen. Im Gesundheitssystem ist es anders. Sie füllen Ihr Wägeli, am Schluss bezahlt aber das Kollektiv der Versicherten. Und seien wir ehrlich: Wenn andere bezahlen, geht man vielleicht etwas weniger haushälterisch um.

 

Wie wollen Sie dieses Problem lösen?

Hier spielt die Drogerie eine wichtige Rolle, sie kann zu einer Drehscheibe werden und mithelfen, dass nicht alles immer über die Krankenversicherung abgewickelt werden muss. Gerade bei leichten Erkrankungen sollten die Menschen den Mut haben, sich mithilfe der kompetenten Fachberatung der Drogistinnen und Drogisten selber zu behandeln und die Behandlung auch selber zu bezahlen. Unsere Ärzte sollten mehr Zeit für schwere Erkrankungen haben.

 

Soll die obligatorische Krankenversicherung komplementärmedizinische Behandlungen bezahlen?

Komplementärmedizin ist eine kostengünstige und gute zusätzliche Behandlungsmethode. Alle Krankheiten heilen kann sie aber nicht. Es gibt Grenzen. Und es ist schwierig, die Wirksamkeit der Methoden wissenschaftlich zu belegen, was nötig wäre, wenn die obligatorische Krankenversicherung die Kosten übernehmen soll. Aber das Volk hat entschieden, und damit ist der Fall klar. Ich persönlich finde, wenn etwas so gut ist wie die Komplementärmedizin und im Vergleich zur Schulmedizin so günstig, wäre es prädestiniert, in der eigenverantwortlichen Selbstmedikation zu landen. Eine Therapie wird nicht besser, nur weil die Krankenversicherung sie bezahlt.

 

Was läuft falsch in der Schweizer Gesundheitspolitik?

Ein Problem ist, dass viele ganz falsche Vorstellungen haben. Das Idyll vom allwissenden Dorfarzt, der immer zur Stelle ist, ist reine Fantasie. Die Realität sieht ganz anders aus. Unser Gesundheitssystem ist vernetzt, interdisziplinär, schnell und spezialisiert. In vielen Ländern läuft das anders. In Schweden traf ich eine 80-jährige ausgewanderte Schweizerin. Sie sagte, wie froh sie sei, nach drei Jahren ein neues Hüftgelenk bekommen zu haben. Da wurde mir bewusst, dass bei uns etwas falsch läuft. Wenn jemand hier nur drei Wochen auf eine Operation warten muss, findet er das ganz schaurig schlimm. Fast am meisten Sorgen macht mir aber, dass viele Menschen an die unendliche Reparierbarkeit glauben. Wir gehen manchmal liederlich um mit unserem Köper und unseren Ressourcen und haben das Gefühl, die Medizin zusammen mit der Versicherung kann das dann schon wieder reparieren.

 

Was meinen Sie genau?

Ich stelle mir zum Beispiel die Frage, ob es nötig ist, Menschen bis ins hohe Alter um jeden Preis am Leben zu erhalten. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gönne jedem grosse Lebensfreude. Aber es kann nicht sein, dass wir fast keine Möglichkeiten mehr haben zum Sterben. Ich denke an meine Grossmutter. Sie hatte einen Oberschenkelhalsbruch und wurde operiert. Das war gut, denn je mobiler jemand ist, desto weniger Pflege braucht er. Drei Jahre später stürzte sie erneut und wurde nicht mehr operiert. Sie wurde bettlägerig und war erstklassig betreut. Aber: Sie hatte keine Möglichkeit zu sterben. Dabei hatte mein Grosmami nur noch diesen einen Wunsch. Diesem Widerspruch müssen wir uns stellen.

 

Was wird Sie gesundheitspolitisch die nächsten Jahre sonst noch umtreiben?

Wir müssen die Rolle des Patienten ernsthaft diskutieren. Wie weit ist der Einzelne mitverantwortlich für die steigenden Kosten? Versicherte, Leistungserbringer und Gesundheitsfachpersonen wie Drogistinnen und Drogisten müssen enger zusammenarbeiten. Ausserdem sollten sie weniger administrativ belastet sein. Und schliesslich sollten alle Medizinalpersonen ehrlicher sein. Sie müssen damit leben können, dass Fehler passieren. Klar, Fehler sollen minimiert werden, aber wir dürfen keine Kultur entwickeln, in der wir keine Fehler mehr machen dürfen. Dann werden sie nämlich versteckt.

 

Sind wir nicht schon so weit?

Ein guter Freund von mir hatte kürzlich eine Spitalinfektion. Nun möchte kein Spital dasjenige mit der höchsten Infektionsrate sein, und dann fängt man an, ein bisschen zu vertuschen und abzuschieben und zu sagen, dass etwas anderes schuld daran ist. In dieser Richtung dürfen wir nicht weitergehen.

 

Die Gesundheitspolitik liegt Nationalrat Jürg Stahl besonders am Herzen. «Die Menschen sollten den Mut haben, sich mithilfe der kompetenten Fachberatung der Drogistinnen und Drogisten selber zu behandeln und die Behandlung auch selber zu bezahlen.»

 

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