100 Tage im Amt

 

«Es ist und bleibt ein Spagat».

 

Am Montag ist der Winterthurer Jürg Stahl 100 Tage im Amt als Präsident von Swiss Olympic. Am Tag darauf befindet das Sportparlament über die definitive Lancierung der Olympia-Kandidatur «Sion 2026. Die Spiele im Herzen der Schweiz». Im Interview mit der Nachrichtenagentur SDA äussert sich Jürg Stahl über emotionale Sportmomente, über Kritik bezüglich zusätzlicher Bundesgelder sowie über Olympia.

Foto: Marcus Schmid

 

Jürg Stahl, seit einigen Wochen haben Sie ein ausserordentlich hohes Arbeitspensum zu bewältigen. Wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihren Kollegen in der Männerriege des TV Brütten turnen können?

Ich führe diesbezüglich nicht Buch. In den ersten drei Monaten dieses Jahrs war ich, wenn ich mich nicht täusche, sechsmal dabei. Mich erstaunt es, ich komme trotz meinem dichten Terminkalender tatsächlich noch dazu. Ich zelebriere diese Turnabende auch ein wenig. Mein Umfeld weiss, dass es schwierig ist, am Donnerstagabend mit mir Termine zu vereinbaren.

 

Sich auch einmal komplett auszuklinken vom Alltag als Nationalratspräsident und Präsident von Swiss Olympic tut sicherlich gut.

Meine Turnkameraden lassen mich Kamerad sein. Wenn ich nicht von mir aus beginne, von Erlebnissen zu erzählen, fragen sie höchst selten etwas. Sie sind sehr diskret. Demnächst gehen wir gemeinsam an ein regionales Turnfest. Darauf freue ich mich. Nun kann ich meine Agenda eher beeinflussen als zuvor als Vizepräsident des Nationalrats oder als Exekutivrat von Swiss Olympic.

 

Nervt es Sie, sich ständig für Ihr derzeit sehr hohes Arbeitspensum rechtfertigen zu müssen und zu erklären, wie Sie alles bewältigen können?

Es hat sich etwas entspannt. Anders wäre es natürlich, wenn mir Fehler unterlaufen würden. Es ist mir gelungen, an den ersten 100 Tagen als Präsident von Swiss Olympic eine hohe Präsenz zu haben, aber auch den Nationalrat gut zu führen. Zwei von vier Sessionen sind ja bereits Vergangenheit – ohne formelle Fehler oder kritische Nachbetrachtungen. Wir können uns zudem glücklich schätzen, dass wir im Haus des Sports in Ittigen wirklich ein gutes Team haben, sowohl im Leistungssport als auch in der Administration bei Swiss Olympic. Die Abläufe funktionieren, nachdem es vor fünf, sechs Jahren noch eine hohe Fluktuation gegeben hat. Wenn es nicht funktionieren würde, gäbe es schon eine Angriffsfläche. Um im Turnerischen zu bleiben: Es ist und bleibt ein Spagat dieses Jahr. Manchmal macht der Blick in die Agenda sogar mir ein wenig Angst.

 

Wie muss man sich Ihre ersten 100 Tage als Swiss-Olympic-Präsident vorstellen? Viel Networking, Studium von vielen Dossiers?

In den ersten Monaten fand natürlich sehr viel Wintersport statt. Wir hatten eine Heim-WM in St. Moritz und viele Weltcup-Veranstaltungen. Dazu gibt es die Endphase im nationalen Bewerbungsprozess für die mögliche Olympia-Kandidatur 2026. Ich war sechsmal im Engadin, aber nicht sechsmal an der Ski-WM – sondern zweimal. Ich war beim Bob-Weltcup, ich war mit Special Olympics, Athleten mit geistiger Beeinträchtigung, im Trainingslager, dazu an der Para-Bob-WM oder am White Turf. Networking fand da natürlich statt. Mein Ansatz ist es, mit den Leuten zu reden, ohne dass sofort Pendenzen bereinigt oder Entscheide gefällt werden müssen. Wenn man wenig Zeit hat, dann nutzt man diese Zeit ziemlich effizient. In meinen ersten Monaten hatte ich viele positive Erlebnisse. Ich bin ein glücklicher Präsident, wenn man die Resultate des Schweizer Sports im ersten Quartal betrachtet.

 

Welches war für Sie denn bislang der emotionalste Sportmoment als Präsident von Swiss Olympic?

Beeindruckt war ich vom Siegerinterview von Beat Feuz an der WM in St. Moritz, als er wiederholt sagte, wie schön es sei, den Gewinn der Goldmedaille im eigenen Land geschafft zu haben. Das hat mir irgendwie Kraft gegeben, auch im Zusammenhang mit einer möglichen Olympia-Kandidatur. Unsere Athleten haben ja die Möglichkeit, die ganze Welt zu bereisen. Sie sind weltweit gern gesehene Gäste. Beat Feuz aber hat betont, wie wichtig es ihm war, zu Hause zu gewinnen. Weiter gab es die zwei Tage, die ich mit den Athleten von Special Olympics Switzerland verbracht habe. Das ist etwas, was einen auf der menschlichen Ebene wieder in die Realität zurückholt. Und dann gab es natürlich jenen Moment, der zu Tränchen rührte: der Sieg von Roger Federer in Melbourne, dieses unglaubliche Comeback. Diese drei Dinge sind mir emotional am nächsten gegangen. Aber daneben gab es selbstverständlich viele weitere Höhepunkte.

 

Zum Beispiel die zusätzlichen 15 Millionen Franken pro Jahr, mit denen der Bund künftig den Nachwuchsleistungssport fördert.

Da habe ich mich auch in der Verantwortung gefühlt, zu beweisen, dass es geht. Dies war eher ein technischer Vorgang, den ich beeinflussen konnte. Die vorhin angesprochenen drei Ereignisse konnte ich nicht beeinflussen. Die 15 Millionen haben mich sicherlich gefreut, vielmehr jedoch die Reaktionen vieler Verbandspräsidenten. Ich war in diesem Dossier seit drei, vier Jahren fest drin – noch bevor ich Präsident von Swiss Olympic wurde. Ich war überzeugt, dass ich dies, zusammen mit anderen, schaffe.

 

Aber die Erleichterung bei Ihnen muss gleichwohl gross gewesen sein, als nach dem Ständerat auch der Nationalrat zugestimmt hat. Wenn Sie als Nationalratspräsident in diesem sportpolitischen Geschäft das Parlament nicht hinter sich gebracht hätten ...

Klar, der Druck war gross. Dieser Erwartungshaltung stelle ich mich aber auch gerne. Die Rolle als Nationalratspräsident war in diesem Fall eher ein Hemmnis, denn in dieser Funktion äussert man sich bei der Abstimmung und der Vorbereitung nicht über den Inhalt. Dass die deutliche Zustimmung des Parlaments in meine ersten 100 Tage als Swiss-Olympic-Präsident gefallen ist, ist sehr erfreulich. Es ist aber ein Resultat von jahrelanger Arbeit.

 

Was entgegnen Sie Leuten, die sagen, es sei nicht die Aufgabe des Staates, den Leistungssport zu fördern?

Ich denke, wir haben einen pragmatischen, schweizerischen Weg gefunden. Wir haben in der Schweiz eine ausgeprägte Trennung zwischen Staat und Sport. Ich habe viele Amtskollegen bei anderen Nationalen Olympischen Komitees, die der Partei des jeweiligen Staatspräsidenten nahestehen. Dies wäre bei uns nicht denkbar. Es käme keiner Partei oder keinem Bundespräsidenten in den Sinn, für einen Kandidaten für das Amt des Swiss-Olympic-Präsidenten zu werben. Diese zusätzlichen 15 Millionen Franken vom Bund sind auch eine Form von Wertschätzung. Der grosse Brocken wird aber nach wie vor über die Verbände geleistet, über Partnerschaften und das Ehrenamt. Spitzensport, Breitensport und Nachwuchssport: Hier gibt es einfach Interaktionen. Es gibt kein Land, in welchem es nur Spitzensport oder nur Breitensport oder nur Nachwuchssport gibt. Diese Interaktion zieht sich durch alles durch, was wir vorhin besprochen haben. Ein Roger Federer kommt nicht als Nummer 1 zur Welt. Ein Beat Feuz war zweimal nahe dran, seine Karriere zu beenden. Hinter seinen jetzigen Erfolgen stehen medizinische Leistungen, sein persönliches Umfeld. Ein Dario Cologna ist keine Einzelfirma, ebenso wenig ein Nino Schurter. Um einen Nino Schurter zu 'kreieren', braucht es Hunderte kleiner Ninos. Darum ist diese Interaktion so wesentlich. Und darum kann man nicht sagen, der Staat unterstütze mit diesen 15 Millionen den Spitzensport. Es ist ein Gesamtkonzept. Hinzu kommen die Infrastrukturleistungen. Hier muss ich den Gegnern des angeblichen Staatssports Folgendes entgegnen: Unsere Turnhallen, unsere Spielplätze, die Velowege, unsere Strasseninfrastruktur werden von Hunderttausenden von jungen Leuten genutzt, die Freude an der Bewegung haben. Hier spricht niemand von Staatssport.

 

Für was soll das zusätzliche Geld konkret eingesetzt werden?

Wir müssen Schwerpunkte setzen. Ansetzen wollen wir in der Trainerausbildung. Eigentlich müssten wir die besten Trainer für die 14- bis 18-Jährigen haben. Verbesserungen bedarf es auch beim Übertritt von der Juniorenstufe in die Elite-Kategorie, denn hier haben wir die meisten Abgänge. Für den einzelnen talentierten Nachwuchssportler muss ein besseres Umfeld in Sachen Ausbildung respektive Beruf geschaffen werden. Dies kostet Geld und ist zeitintensiv. Einwirken können wir als Swiss Olympic auch bei der Unterstützung der Verbände in Bezug auf die Leistungssportchefs. Manche Verbände sind abhängig von ein, zwei guten Leuten. Sind diese überlastet oder beenden diese ihre Tätigkeit, dann gibt es ein Loch. Hier kann Swiss Olympic unterstützend wirken, Erfahrungen einbringen. Wie ich bereits vor meiner Wahl gesagt habe: Wir müssen nicht das Podest finanzieren, sondern den Weg dorthin unterstützen.

 

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