100 kleine Giulias

 

«Wegen den hundert kleinen Giulias»

 

Am 25. November wählt das Sportparlament den neuen Präsidenten von Swiss Olympic. Jürg Stahl aus Brütten tritt als einer von vier Kandidaten an. Der Vizepräsident des Nationalrates ist in Sport, Politik und Wirtschaft tief vernetzt.

Interview Der Landbote

Bild Marc Dahinden

 

Sie haben im August die Olympischen Spiele in Rio besucht. Was blieb in Erinnerung?

Jürg Stahl: Ich bin weiterhin beeindruckt von den sieben Medaillen, welche die Schweiz in sechs Sportarten heimbringen konnte. Das zeigt, dass bei uns vieles funktioniert. Athleten wie Fabian Cancellara, Giulia Steingruber und Nino Schurter haben mir imponiert. Sie sind ein Abbild der «Sportschweiz», starke Persönlichkeiten, sympathisch, nicht abgehoben und hochanständig.

 

Sind solche Erfolge nachaltig gewährt?

Ich bin kein Prophet. Klar ist: Neben den sieben Medaillen holte die Schweiz in Rio 18 Diplome, was unterstreicht, dass wir eine starke Basis haben. Das stimmt mich zuversichtlich und ist ein Kompliment an die Sportverbände, die in von der Nachwuchsförderung bis zur Betreuung von Spitzenathleten einen ausgezeichneten Job machen. Unter den vergleichbaren kleineren Nationen können wir uns sehr gut zeigen. Aber an der internationalen Spitze ist es härter geworden und man muss noch besser gerüstet sein und weiter hart arbeiten, um weitere Erfolge zu erzielen.

 

Wie denn kann die Schweiz besser werden?

Im Grossen und Ganzen stimmt die Richtung. Einiges haben wir erreicht: Sportfördergesetz, Stärkung von Jugend und Sport, Armee und Spitzensport, vorbildliches Antidoping – um nur einige Beispiele zu nennen. Andererseits haben wir noch Baustellen. Ich orte diese im Schulsport, Nutzung der Infrastrukturen, vereinfachte Bewilligungspraxis für Veranstaltungen, Vereinbarkeit von Lehre und Studium. Die Vorsorgesituation ist zu optimieren: In der Phase der Ausbildung verlieren wir Talente, weil sie sich im entscheidenden Moment auf ihre berufliche Situation konzentrieren müssen oder wollen. Im wissenschaftlichen Bereich gibt es ebenso Verbesserungspotenzial. Wir sind mit den Bundeszentren in Tenero und Magglingen sowie den Leistungszentren der Verbände sehr weit. Wir könnten aber noch interdisziplinärer denken, Erkenntnisse der Verbände mehr zusammen tragen und Synergien verbessern. Ich glaube nicht, dass wir unser Potenzial schon ausgereizt haben. Aber der Schweizer Sport macht aus relativ bescheidenen Mitteln bereits jetzt viel.

 

Im Mai hat der Bundesrat zusätzliche 15 Millionen Franken Bundesgelder für den Spitzensport abgelehnt, nun enttscheidet das Parlament. Was sagen Sie Parlamentariern, um sie von einem Ja zu überzeugen?

Ich erzähle meinen Kolleginnen und Kollegen mein eindrücklichstes Erlebnis der letzten paar Wochen. Als Giulia Steingruber aus Rio zurückkehrte, sah ich am Flughafen Dutzende kleine Giulias in Turntenüs, die auf sie gewartet haben. Wir Politiker müssen nicht das Podest mitfinanzieren, sondern versuchen, den Weg zum Podest zu unterstützen. Wir müssen den Sport wegen den hundert kleinen Giulias fördern, die so werden wollen wie die grosse Giulia. Zwischen Breiten- und Spitzensport besteht eine direkte Abhängigkeit: Es gibt keine Spitze, wenn wir keine Breite haben, und wir haben eine geringere Breite, wenn es keine Spitze gibt. Der Effekt der Original-Giulia ist, dass sie die Mädchen motiviert. Durch Spitzenathleten wie sie können möglichst viele zum Bewegen animiert werden. Das ist auch volkswirtschaftlich von Bedeutung. Ich will von meinen «Gspändli» im Parlament nicht, dass sie wegen den Spitzenathleten die 15 Millionen bewilligen, sondern wegen den kleinen Giulias – oder Fabians und Ninos. Alles beginnt bei einer strukturierten und beherzten Jugendsportförderung.

 

«Ich glaube nicht, dass wir unser Potenzial schon ausgereizt haben.»

 

15 Millionen Franken sind ein netter Betrag. Aber bringt das den Schweizer Sport wirklich entscheidend weiter?

Ich bin dezidiert der Meinung, dass es die 15 Millionen zusätzlich braucht, auch wenn sie sind nicht allein entscheidend sind. Ich kämpfe in Bundesbern seit 17 Jahren, nebst anderem, mit Herzblut für den Sport. Nach der Ablehnung für die 15 Millionen durch den Bundesrat ist aus Sportkreisen der falsche Eindruck entstanden, es seitens des Bundes sei bisher nichts gemacht worden. Das hat mich etwas touchiert und enttäuscht. Die 15 Millionen sehe ich als wichtiger Beitrag, weil sie mehr ermöglichen. Aber sie sind darüber hinaus vor allem ein symbolischer Akt, dass man den Weg aufs Podest mittragen will, eine Wertschätzung gegenüber dem Sport und allen, die daran beteiligt sind. Die 15 Millionen haben vom Volumen her nicht den gleich grossen Effekt wie das Zeichen, das Bundesbern durch sie setzen könnte.

 

Welche Rolle soll der Bund in der Sportförderung einnehmen?

Eindeutig begleitend. Jedes Sportsystem hat im internationalen Vergleich seine Eigenheiten. Die Sporthistorie in der Schweiz basiert auf Ehrenamtlichkeit und Vielseitigkeit. Das ist ausgeprägt wie in fast keinem anderen Land. Die Verbände und die Vereine machen einen hervorragenden Job und bilden die Basis für die Entwicklung eines erfolgreichen Sportlers. Das funktioniert wie ein Uhrwerk. Man muss dem Sorge tragen und die Vorzüge immer wieder aufzeigen. Staatssport wie in Russland wird bei uns nie Realität. Ich habe zum Glück noch niemanden kennen gelernt, der das bei uns auch so machen möchte. Wir müssen als Bund und selbst als Swiss Olympic den Verbänden nicht vorschreiben, wie sie ihre Sportart bestreiten müssen. Sie sind unabhängig und fähig, es selber zu entscheiden.

 

Und was konkret ist die Aufgabe der öffentlichen Hand?

Bund, Kantone und Gemeinden haben seit Jahren eine wahnsinnig wichtige Rolle, vor allem im Bereich einer modernen Infrastruktur. Sie stellt Turnhallen, Sportplätzen, Freizeitparks zur Verfügung. Hier leistet die Schweiz extrem gute Vorarbeit. Der Bund hilft dem Leistungssport etwa mit Magglingen, das die Verbände zu guten Konditionen benützen können, in der Trainerausbildung, im wissenschaftlichen und sportmedizinischen Bereich oder in der Entwicklung von Materialien. Im Wissenstransfer bezüglich Technologie, Bekleidung oder Ernährung kann er durchaus noch mehr machen, ohne dass er gleich Einfluss auf einzelne Sportler nehmen muss.

 

Heute in vier Wochen steht die Wahl bevor Weshalb wären sie der Richtige als Präsident von Swiss Olympic?

(Schmunzelt und strahlt) Eindeutig wegen des Herzblutes… Und weil ich eine grosse Erfahrung und Vernetzung in allen drei wesentlichen Bereichen – Sport, Politik und Wirtschaft – mitbringe. Für das Amt braucht es das Wissen über Mechanismus und Wirken des Schweizer Sports. Politisch werden wir über zusätzliches Geld diskutieren müssen sowie über Sparprogramme, die anstehen. Da könnte der Sport durchaus auch unter die Räder kommen – und das gilt es zu verhindern. Letztes Jahr, als man die Jugend- und Sport-Gelder kürzen wollte, habe ich massgeblich mitgearbeitet, dass es Jugend- und Sport-Gelder kürzen wollte, habe ich massgeblich mitgearbeitet, dass es nicht passiert. Es gibt Diskussionen über Lichtverschmutzung und Lärmschutz, was relativ schnell auch Sportanlagen gefährden kann. Neben dem sportlichen Aspekt, den der Präsident beherrschen muss, gilt es deshalb auch eine Person zu haben, die politische Steine aus dem Weg räumen kann. Ausserdem würde sich, bei erfolgreichen Wahlen, mein Amt als Swiss-Olympic-Präsident elf Monate lang mit jenem des Nationalratspräsidenten überschneiden. Das ist eine einmalige Chance für den Schweizer Sport – auch im internationalen Kontext. Drittens der Kontakt zur Wirtschaft: Sie ist wichtig als Sponsor und als Partner, der Sportler anstellt und begleitet. Ich bin überzeugt, dass ich zusammen mit ganz vielen Beteiligten sowie im Team aus dem Schweizer Sport eine gute Geschichte machen kann.

 

Welche Vision als Präsident haben Sie?

Ich bin kein Denkmalbauer, eher einer, der anpackt, der Schwachstellen definiert und ausmerzt. Ich spreche bewusst nicht von Visionen. Denn die sind dann nötig, wenn eine Organisation am Boden liegt und nicht funktioniert. Das ist bei Swiss Olympic ja überhaupt nicht der Fall. Ich habe drei Schwerpunkte, die ich mit einem starken Exekutivrat erreichen will. Erstens: Mehr Mittel. Die kann man sowohl auf politischem Weg als auch mit einem partnerschaftlichen Verhältnis zur Wirtschaft beschaffen. Zweitens brauchts eine stabile Handhabung, damit die Verbände ihre Sportart so ausüben können, wie sie es für richtig erachten. Swiss Olympic und der Präsident müssen dort als Dienstleister auftreten, wo diverse Sportarten die gleichen Probleme haben, wie bei der Mehrwertsteuerbelastung oder Benutzungsgebühren. Als Beispiel: Wenn ein Ehrenamtlicher Jugendliche trainiert und jährlich 500 bis 800 Franken Parkplatzgebühr zahlen muss, dann stimmt etwas nicht. Es geht darum, allen den Rücken freizuhalten, damit sie ihren Sport ausüben können. Drittens – und das ist keine Vision, sondern ein Auftrag – bin ich der Meinung, dass man in der nächsten Dekade der Schweizer Jugend im eigenen Land Olympische Spiele ermöglichen muss.

 

Lässt sich die Bevölkerung für Olympische Spiele begeistern?

Ja, aber nur wenn das Projekt sehr gut ist – klein, fein, innovativ… schweizerisch halt! Ich war bei der Bündner Kampagne für 2022 recht nahe dran. Dort machte Swiss Olympic den Fehler, nicht davon auszugehen, dass die Mehrheit eine solche Idee überhaupt schlecht finden könnte. Da haben wir viel gelernt. Wir wollen die Bevölkerung hinter uns haben und das Internationale Olympische Komitee überzeugen. Wir können beide Hürden nur überspringen, wenn das Projekt glaubwürdig und gut ist. Wenn wir das als Sportfamilie nicht heranbringen, haben wir es auch nicht verdient, Spiele durchzuführen.

 

Wie stehen die Chancen?

Dass wir vier Kandidaten für Winterspiele 2026 haben, führt zu einer gewissen Konkurrenz, bessere Projekte zu präsentieren. Als Mitglied der Task Force, welche die Beurteilung macht, stelle ich erfreut fest, dass in den Projekten viele innovative und engagierte Köpfe am Werk sind. Insgesamt sehe ich gute Chancen, die Bevölkerung hinter uns zu bringen. Zugleich muss das IOC bereit sein, Spiele in einem vernünftigen Rahmen zuzulassen. Wenn der Gigantismus weiter geht – was ich nicht hoffe –, braucht es die Schweiz nicht für die Spiele. Wir können sie nur organisieren, wenn wir auf bestehende Infrastruktur zurückgreifen plus gewisse Investitionen vorziehen können.

 

Was entgegnen Sie Kritikern, die sagen, Olympische Spiele würden nur sehr viel kosten und nichts einbringen?

Das Land, das Olympische Spiele richtig durchführt, erzielt eine enorme Wertschöpfung. Es zählt nicht nur der monetäre Effekt, vielmehr würden Spiele der Seele, Motivation und dem Selbstverständnis eines Landes sehr gut tun. Der Sport kann allen ein unvergleichliches, gemeinsames Erlebnis vermitteln. Der Schweizer Bevölkerung und der Jugend müssen wir diese Perspektive geben. Es ist zu lange her seit St. Moritz 1948.

 

Jürg Stahl

Sportler, Politiker und Funktionär mit olympischem Virus

Meistens wenn Georges Miez seinem Heimatquartier Töss einen Besuch abstattete, schaute er in der Drogerie von Kurt Stahl vorbei und schwang sich in den Handstand. Jürg Stahl war Augenzeuge des Spektakels im Laden seines Vaters; es war sein erster unmittelbarer Kontakt mit der Olympiawelt. An Georges Miez, den erfolgreichsten Schweizer Olympioniken, der als Kunstturner zwischen 1924 und 1936 viermal Gold, dreimal Silber sowie einmal Bronze gewann und 1999 starb, erinnert ein gravierter Stein am Rande der Leichtathletikbahn im Deutweg. Dort, wo der Sportler Stahl viele Stunden verbrachte.

 

Als Leichtathlet und Kunstturner schafte er es in höhere nationale Kategorien. 1985 holte er SM-Silber im Stabhochsprung, er stand im Mehrkampf-B-Kader und gewann 1993 den Zehnkampf des Zürcher Kantonalturnfestes im unteren Tösstal. Noch immer tritt er, nun für die Männerriege Brütten, an Turnfesten an.

 

1994 begann mit der Wahl in den Winterthurer Gemeinderat der Einstieg in die Politik, der in diverse Ämter, auch im Sport, mündete. Stahl war Präsident des Grossen Gemeinderates, des Zürcher Kantonalturnfestes 2005 in Wiesendangen, des Swiss Cups Zürich – und des FC Töss. Er war Mitglied des Zentralvorstandes und Ausschusses Spitzensport des Schweizerischen Turnverbandes, Beirat von Swiss Athletics, Swiss Unihockey und der Tour de Suisse sowie im Vorstand der Sport-Toto-Gesellschaft – und 2014 Kampfrichter an der Leichtathletik-EM in Zürich. Seit 1999 sitzt er im Nationalrat, er ist Präsident der Parlamentarischen Gruppe Sport und Exekutivrat von Swiss Olympic. In der Wirtschaft wirkt er als Direktionsmitglied einer Schweizer Versicherungsgesellschaft. Die vielschichtige Vernetzung geht weiter: Roland Mägerle, ein alter Kumpane und Sportfreund, mit dem er in den Neunziger Jahren in der Neustadtgasse das Lokal «Sport Inn» führte, ist Sportchef des Schweizer Fernsehens. Als Athlet brachte er es nie dahin, aber Olympische Spiele faszinierten ihn immer, nicht nur wegen Georges Miez. Er sei «vom olympischen Virus infiziert», sagt Stahl. Im August reiste er zum sechsten Mal an Spiele. Rio besuchte er als Exekutivrat von Swiss Olympic, als Nationalrats-Vizepräsident und als Sportfan. Diesmal gar aus familiärem Grund: Angelica Moser, seine Nichte, trat im Stabhochsprung an.

 

Jürg Stahl (portiert vom Schweizerischen Turnverband), der ehemalige Olympia-Missionschef Werner Augsburger (Swiss Volley), Nationalrat Martin Landolt (Swiss Sliding) und Franz Stämpfli (Schweizer Schiesssportverband) kandidieren in einem Monat vor dem Sportparlament mit 85 Verbänden für die Nachfolge von Jörg Schild, der Swiss Olympic seit 2005 vorstand.

 

Drei Tage nach dieser Ausmarchung um den Posten des höchsten Sportfunktionärs der Schweiz wird Jürg Stahl aller Voraussicht nach zum Nationalratspräsidenten, zum höchsten Schweizer, gekürt. Dem 48-Jährigen, der mit der Familie in Brütten wohnt, stehen einmalig spannende Momente bevor.

 

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