Nationalratspräsident in spe

 

Der Unspektakuläre.

 

Ein verirrter Wahlzettel prägte das Leben von Jürg Stahl (svp.) stärker als vorerst gedacht. Am Montag wird der gelernte Drogist und ehemalige Zehnkämpfer zum Nationalratspräsidenten gekürt.

von Jan Flückiger, Bern

 

Eine einzige Stimme machte den Unterschied. Am 1. April 2001 verirrte sich ein Wahlzettel mit dem Namen seiner Konkurrentin aus der SP um den Einzug in den Winterthurer Stadtrat im falschen Stapel. Jürg Stahl galt als gewählt. Doch die SP legte Beschwerde ein, und als sechs Monate später die Stimmen noch einmal ausgezählt waren, erfuhr Stahl auf dem Weg zum Rathaus, dass er nun doch nicht Stadtrat wird. In der Zeit dazwischen hatte Stahl viele Gedanken gewälzt. Was er als Vorsteher des Schuldepartements verändern würde. Und wie er die Nachfolge für seine Drogerie regeln könnte, die er fünf Jahre zuvor von seinem Vater übernommen hatte – der kurz darauf mit 59 Jahren an einem Herzversagen starb.

 

Es sei keine einfache Zeit gewesen, sagt der 48-Jährige rückblickend. Es habe ihn «durchgeschüttelt». Zumal er einige Monate später bei der Gesamterneuerungswahl der Stadtregierung auch im zweiten Anlauf nicht in die Kränze kam. Er erreichte zwar das absolute Mehr, schied aber als Überzähliger aus. Als «bittere Ohrfeige» bezeichnet er die Niederlage damals. Und er nahm sie persönlich. Offenbar wolle man ihn in dieser Stadt nicht mehr als Politiker, klagte der damals 34-Jährige.

 

Es war die Klage eines Erfolgsverwöhnten. Ohne grosse Ambitionen war Stahl in die Politik eingestiegen. 1994 kandidierte er auf dem 47. Listenplatz für den Grossen Gemeinderat – und wurde prompt gewählt. Sein Netzwerk als ehemaliger Kunstturner und Leichtathlet – als Zehnkämpfer war er im Junioren-Nationalkader –, sein stadtbekannter Vater und seine Tätigkeit als Mitinhaber einer Beiz halfen ihm dabei. Drei Jahre später war Stahl Fraktionspräsident. Weitere drei Jahre später wurde er als Gemeinderatspräsident höchster Winterthurer – im zarten Alter von 32 Jahren. Bereits ein Jahr zuvor wurde er in den Nationalrat gewählt. Auch das unerwartet. Die SVP Ost – damals noch auf einer geografisch getrennten Liste – gewann, angeführt von Christoph Blocher, vier Sitze. Einer davon ging an ihn. Kein Wunder, stellte das zweimalige Scheitern seiner Stadtratskandidatur das Leben des gelernten Drogisten auf den Kopf. Jetzt, gut 14 Jahre später, sieht er das gelassen. Die Niederlagen hätten ihn zurück auf den Boden gebracht. Und ohne sie stünde er nicht da, wo er sei.

 

Tatsächlich wäre Stahls Leben in anderen Bahnen verlaufen, wäre er damals Stadtrat geworden. Er würde am Montag wohl nicht zum Nationalratspräsidenten gekürt. Und er hätte seine Frau kaum näher kennengelernt. Denn sie war Vormieterin und später Nachbarin seiner kleinen Berner Wohnung, die er für den Aufenthalt während der Sessionen mietete. Vor gut einem Jahr haben die beiden – inzwischen verheiratet – eine Tochter bekommen. Wenn er davon spricht, strahlt der höchste Schweizer in spe übers ganze Gesicht. Die Geburt seiner Tochter habe ihn «ausgeglichener» gemacht, sagt er.

 

Dass er im Bundeshaus nicht oft im Rampenlicht stand und keine grossen Stricke zerrissen hat, weiss er selber. Er sei eben ein «unspektakulärer» Politiker. Die Arbeit im Hintergrund, das Führen eines Gremiums, liege ihm mehr als die Politik mit dem Zweihänder. Dies konnte er 2008 und 2009 als Präsident der nationalrätlichen Gesundheitskommission unter Beweis stellen. Ein besonderes Motto für sein Präsidialjahr habe er nicht. Er wolle es «nicht speziell gut, sondern einfach gut» machen, sagt Stahl. Er sehe sich als Vertreter all der Menschen, die täglich «ebenfalls ganz unspektakulär» zur Arbeit gingen und diese nach bestem Gewissen erledigten.

 

Auch seine eigene Arbeit neben der Politik, eine Teilzeitstelle im Direktorium der Krankenkasse Groupe mutuel, bezeichnet er als unspektakulär. Natürlich müsse er sich anhören, er sei ein Krankenkassen-Lobbyist, aber da stehe er inzwischen drüber. Während des Präsidialjahres wird er das Pensum bei der Krankenkasse so oder so reduzieren müssen. Zumal Stahl am Freitag auch noch mit 240 von 444 gültigen Stimmen zum Präsidenten von Swiss Olympic gewählt wurde. Die beiden Ämter zeitlich unter einen Hut zu bringen, sei eine «lösbare Herausforderung», sagt er.

 

Abstriche machen müssen wird er als Nationalratspräsident bei seiner Männerriege. Normalerweise sei das Training am Donnerstagabend für ihn heilig. Nächstes Jahr werde es wohl keine «Fleisskreuzli» geben. Der Sport ist für ihn nach wie vor ein wichtiger Teil seines Lebens. Seit dem frühen Tod seines Freundes This Jenny, vormals Glarner Ständerat, der ihm heute noch nahegeht, steht er beim Parlamentarierskirennen jeweils zuoberst auf dem Podest.

 

Weit oben findet auch das Gespräch mit der NZZ statt – im ehemaligen Tower des Flughafens Kloten. Der Flughafen sei ein Ort von grosser Symbolik, sagt er. Leute würden hier verabschiedet und abgeholt. Fernund Heimweh träfen zusammen. Als Fallschirmaufklärer und Major der Luftwaffe habe er einen besonderen Bezug zum Fliegen. Die zunehmende Mobilität habe aber auch ihre Schattenseiten. So litten Geselligkeit und Kameradschaft darunter, dass die Kollegen dank den guten Zugverbindungen auch während der Session viel öfter nach Hause fahren würden als früher.

 

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